Dieter Axmann
Fachanwalt & Strafverteidiger
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Wer eine objektiv schutzlose Lage des Opfers für sexuelle Handlungen ausnutzt, begeht einen strafbaren sexuellen Übergriff. Dafür ist es gleichgültig, ob das Opfer, beispielsweise ein Kind, seine Schutzlosigkeit erkennt. Das hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 01.06.2020 - 4 StR 678/19 entschieden.
Das Landgericht Halle hatte einen Angeklagten zu drei Jahren Haft verurteilt. In einem Fall hatte er ein ihm bekanntes sechsjähriges Mädchen auf ein Abbruchgelände gelockt, ihr dort Hose und Unterwäsche ausgezogen und ihre Genitalien mit seinen Fingern berührt. In einem zweiten Fall brachte er ein acht Jahre altes, ihm unbekanntes Mädchen, dass er allein auf der Straße vorfand, mit körperlichem Zwang zu einer Ruine. Er drohte ihm mit dem Tod, falls es nicht still sei, zog ihm Hose und Unterhose aus, berührte seine Genitalien mit seiner Zunge und zwang es zu einem Zungenkuss.
Verurteilt wurde er für zwei Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 StGB), einmal in Tateinheit mit sexuellem Übergriff begangen, einmal in Tateinheit mit sexueller Nötigung (§ 177 StGB). Außerdem ordnete das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an.
Staatsanwaltschaft und Nebenklage legten gegen die Entscheidung Revision beim Bundesgerichtshof ein. Mit Erfolg: der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache zurück ans Landgericht. Die Staatsanwaltschaft bemängelte, dass der Mann nicht zusätzlich für einen sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs.5 Nr.3 StGB verurteilt worden war: das Ausnutzen einer Lage, „in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist“.
Das Landgericht war der Ansicht, dass in beiden Fällen keine schutzlose Lage bestand. Das Kind im ersten Fall habe keine Kenntnis von einer schutzlosen Lage gehabt, während es im zweiten Fall nicht zu einer auf der schutzlosen Lage beruhenden Willensbeugung des Kindes gekommen sei. Der BGH korrigierte diese Wertungen (BGH, vom 20.02.2020 - 4 StR 678/19).
Der BGH befasste sich in seiner Entscheidung damit, wann das Ausnutzen einer schutzlosen Lage bei einem sexuellen Übergriff vorliegt. Nach Auffassung der Richter am BGH hatte das Landgericht im ersten Fall diesen Tatbestand zu eng ausgelegt. Es kommt nicht darauf an, dass das Opfer seine schutzlose Lage erkennt. Vielmehr zählt, ob seine Situation objektiv betrachtet schutzlos ist.
Auch auf eine Nötigung kommt es nach Auffassung des Senats nicht mehr an, seit die Qualifikation des § 177 Abs.5 Nr.3 StGB im Strafgesetzbuch verankert wurde. Es genügt, dass objektiv betrachtet die Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten des Opfers geringer sind als die Möglichkeiten des Täters, auf es einzuwirken.
Entscheidend sind die gesamten Umstände des Einzelfalls. Für sich allein betrachtet sind Einzelaspekte wie die Tatzeit oder ein abgelegener Tatort, die körperlichen Gegebenheiten oder das Alter nicht entscheidend.
Das Opfer muss keineswegs komplett aller Verteidigungsmöglichkeit beraubt sein. Ob die Schutzlosigkeit von dem Täter herbeigeführt wurde, ist ebenfalls ohne Belang. Allerdings kommt es immer auf die Umstände des Einzelfalls an. So muss der Täter die schutzlose Lage des Opfers erkennen und ausnutzen, damit ein sexueller Übergriff im Sinne des § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB vorliegt.
Dieter Axmann ist Fachanwalt für Strafrecht aus Dortmund. In den vielen Jahren Tätigkeit als Strafverteidiger hat er bereits Hunderte von Mandanten gegen den Vorwurf von Sexualdelikten verteidigt und verfügt über spezialisiertes Fachwissen im Sexualstrafrecht.